4. Dezember
Märchen
vom Auszug aller "Ausländer"
von
Helmut Wöllenstein
Es
war einmal, etwa drei Tage vor Weihnachten, spät abends. Über dem
Marktplatz der kleinen Stadt kamen ein paar Männer gezogen. Sie blieben
an der Kirche stehen und sprühten auf die mauer die Worte "Ausländer
raus" und "Deutschland den Deutschen". Steine flogen in das Fenster des
türkischen Ladens gegenüber der Kirche. Dann zog die Horde ab.
Gespenstische Ruhe. Die Gardinen an den Fenstern der Bürgerhäuser waren
schnell wieder zugefallen. Niemand hatte etwas -gesehen.
"Los
kommt, wir gehen." "Wo denkst Du hin! Was sollen wir denn da unten im
Süden?" "Da unten? Da ist doch immerhin unsere Heimat. Hier wird es
schlimmer. Wir tun, was an der Wand steht: 'Ausländer raus' !"
Tatsächlich:
Mitten in der Nacht kam Bewegung in die kleine Stadt. Die Türen der
Geschäfte sprangen auf. Zuerst kamen die Kakaopäckchen, die Schokoladen
und Pralinen in ihrer Weihnachtsverkleidung. Sie wollten nach Ghana und
Westafrika, denn da waren sie zu Hause. Dann der Kaffee, palettenweise,
der Deutschen Lieblingsgetränk: Uganda, Kenia und Lateinamerika waren
seine Heimat.
Ananas
und Bananen räumten ihre Kisten, auch die Trauben und Erdbeeren aus
Südafrika. Fast alle Weihnachtsleckereien brachen auf. Pfeffernüsse,
Spekulatius und Zimtsterne, die Gewürze aus ihrem Inneren zog es nach
Indien. Der Dresdner Christstollen zögerte. Man sah Tränen in seinen
Rosinenaugen, als er zugab: Mischlingen wie mir geht's besonders an den
Kragen. Mit ihm kamen das Lübecker Marzipan und der Nürnberger
Lebkuchen.
Nicht
Qualität, nur Herkunft zählte jetzt. Es war schon in der
Morgendämmerung, als die Schnittblumen nach Kolumbien aufbrachen und
die Pelzmäntel mit Gold und Edelsteinen in teuren Chartermaschinen in
alle Welt starteten. Der Verkehr brach an diesem Tag zusammen ... Lange
Schlangen japanischer Autos, vollgestopft mit Optik und
Unterhaltungselektronik, krochen gen Osten. Am Himmel sah man die
Weihnachtsgänse nach Polen fliegen, auf ihrer Bahn gefolgt von den
Seidenhemden und den Teppichen des fernen Asiens.
Mit
Krachen lösten sich die tropischen Hölzer aus den Fensterrahmen und
schwirrten ins Amazonasbecken. Man musste sich vorsehen, um nicht
auszurutschen, denn von überall her quoll Öl und Benzin hervor, floss
in Rinnsalen und Bächen zusammen in Richtung Naher Osten. Aber man
hatte ja Vorsorge getroffen.
Stolz
holten die deutschen Autofirmen ihre Krisenpläne aus den Schubladen:
Der Holzvergaser war ganz neu aufgelegt worden. Wozu ausländisches Öl?!
- Aber die VW's und BMW's begannen sich aufzulösen in ihre Einzelteile,
das Aluminium wanderte nach Jamaika, das Kupfer nach Somalia, ein
Drittel der Eisenteile nach Brasilien, der Naturkautschuk nach Zaire.
Und die Straßendecke hatte mit dem ausländischen Asphalt auch immer ein
besseres Bild abgegeben als heute.
Nach
drei Tagen war der Spuk vorbei, der Auszug geschafft, gerade
rechtzeitig zum Weihnachtsfest. Nichts Ausländisches war mehr im Land.
Aber Tannenbäume gab es noch, auch Äpfel und Nüsse. Und die "Stille
Nacht" durfte gesungen werden - Allerdings nur mit Extragenehmigung,
das Lied kam immerhin aus Österreich!
Nur
eines wollte nicht in das Bild passen: das Kind in der Krippe, sowie
Maria und Josef waren geblieben. - Ausgerechnet drei Juden! Wir
bleiben, hatte Maria gesagt,denn wenn wir aus diesem Land gehen, wer
will ihnen dann noch den Weg zurück zeigen - zurück zur Vernunft und
zur Menschlichkeit?